Der Orient zu Gast in Tübingen

(Wintersemester 2004/2005)



Tübingen und der Orient

Die Universitätsstadt Tübingen ist eine kleine Stadt in der die Beschäftigung mit orientalischen Sprachen und Kultur so alt ist wie die Universität selbst, deren 525jähriges Bestehen vor zwei Jahren gefeiert wurde: Eine lange Tradition, die bis ins 16. Jahrhundert zurückgeht und seitdem gepflegt wird. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Vorderen Orient und dem islamischen Kulturkreis gehören zum festen Lehrplan der Universität und die orientalischen Buchbestände der Universitätsbibliothek sowie die Sammlungen der Universität zählen zu den bedeutendsten der Bundesrepublik bzw. der Welt.

Die deutschen Orientalisten, unter ihnen Tübinger Gelehrte, waren immer an der Spitze der europäischen Bewegung für die Verbreitung der alten arabischen bzw. orientalischen Kultur und sorgten sich um die Erleichterung des Zugangs zu ihr seit Jahrhunderten. Schon 1521 hatten die Gelehrten an dem neu gegründeten Lehrstuhl für Hebräische Studien (als Ergänzung zur Theologie) besonderes Interesse am Arabischen. Vor allem Wilhelm Schickhard, der von 1619 bis 1635 als Professor der biblischen Grundsprachen sich auch intensiv mit dem Arabischen beschäftigte, ragte besonders hervor. Auch nach der Trennung der Orientalistik von der Theologie im 18. Jahrhundert wurde die Beschäftigung mit dem Orient in Lehre und Forschung an der Universität gepflegt und fortgesetzt. Noch heute wird für die ältere orientalistische Literatur die Bibliographie "Bibliotheca arabica" des Tübinger Professors und Universitätskanzlers Christian Friedrich Schnurrer benutzt, die 1775 erschien und einen umfassenden Überblick über die damalige europäische Literatur über die arabischen Völkern und Länder gibt.

Die kontinuierliche Beschäftigung mit den Religionen und Kulturen dieser Region wurde mit dem hervorragenden Orientalisten wie Heinrich Ewald, 1838 bis 1848 Professor in Tübingen, Albert Socin (Professor in Tübingen von 1872 -1889) und Professor Enno Littmann fortgesetzt, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts Palästina und Syrien erforschte, zwischen den beiden Kriegen als Professor für arabische Philologie und Sprachvergleich an den Universitäten Kairo und Alexandria lehrte und als angesehenes Mitglied der ägyptischen Akademie der Wissenschaft in Kairo wirkte. Scheherezades berühmte Märchen, erzählt in 1001 Nacht, wurden von Prof. Littmann ins Deutsche übersetzt. Sein bedeutendster Schüler war ein blinder Felachensohn, Taha Hussain, der durch ihn in die europäische wissenschaftliche Methodik eingeführt wurde. Er ist eines der leuchtendsten Beispiele einer Synthese von europäischem und arabischem Denken und Wirken. Nachfolger war Josef van Ess, der 1999 nach über 30-jähriger Lehrtätigkeit emeritiert wurde.

Eine andere Etablierungsphase übernahm die Orientalistik in Tübingen 1969 beim interdisziplinären Sonderforschungsbereich "Tübinger Atlas des Vorderen Orients". Insgesamt mehr als sechzig Wissenschaftler aus dreizehn Fächern haben an diesem Atlaswerk gearbeitet: Geographie, Botanik, Urgeschichte, Vor- und Frühgeschichte, Ägyptologie, Altorientalistik, Biblische Archäologie, Alte Geschichte, Judaistik, Christlicher Orient, Islamkunde, Mittlere Geschichte und Neue Geschichte. Das Geographische Institut der Universität übernahm die Koordinierung. Es wirkte eine ganze Reihe Mitarbeiter außerhalb Tübingens, auch aus dem Ausland.

Heutzutage zeigt sich die Vielfältigkeit der orientalischen Studien an der Universität deutlich an Studienfächern wie Altorientalistik, Ägyptologie, Christlicher Orient, Arabistik, Islamwissenschaft, Irankunde sowie Politik, Wirtschaft und Kultur der Länder des Nahen Ostens sowie an öffentlichen Diskussionen und Vorträgen, Partnerschaftsbeziehungen und Forschungskooperationen.

Die traditionelle kontinuierliche Beschäftigung mit dem Vorderen Orient wurde mit wertvoller Literatur über und aus dieser Region ständig bereichert. Wertvolle Sammlungen wurden im laufe der Jahrhunderte erworben, viele frühe Werke der europäischen Literatur des 16. und 17. Jahrhunderts über die arabisch-islamische Welt werden sorgsam als wertvolle Schätze der Bibliothek gehütet.

Sie besitzt z.B. eines der frühesten, prächtigsten und seltenen Erzeugnissen des arabischen Typendruck im Abendland, den berühmten Kanon der Medizin von Avicenna (980-1037), der 1593 in der von Kardinal Ferdinand von Medici in Rom gegründeten Druckerei erschienen ist, das Kitab al-Agurrumiya, die bekannte arabische Grammatik des Ibn Agurrum (Fez, gest. 1323), die in den Jahren 1608-1610 in Breslau gedruckt wurde, zusammen mit der lateinischen Übersetzungen und den Anmerkungen von Peter Kirsten (1577-1640), der arabisch-lateinische Koran, der von Ludovico Maracci besorgt und 1698 in Padua erschienen ist, und das 1584 in Frankfurt erschienene "Reysebuch" mit Beschreibungen von 18 Palästina-Reisen u.a.

Neben den Arbeiten Tübinger Orientalisten sind handschriftliche Nachlässe bedeutender Orientalisten in der Universitätsbibliothek aufbewahrt. Die Tagebücher und Skizzenbücher des berühmten Orientreisende Julius Euting (1868-1871 Bibliothekar in Tübingen) besitzen noch ihren großen künstlerischen und dokumentarischen Wert. Die Bibliothek hat auch einige kostbare Koranhandschriften und wertvolle Bücher, die bis in das 9. Jahrhundert zurück reichen.

Die berühmten in Konstantinopel gedruckten Werke von Ibrahim Müteferriqa, die Inkunabeln des islamischen Orients, stellen den ersten arabischen Typendruck in der islamischen Welt wie z.B. Wanquli's (gest.1592) türkische Übersetzung der arabischen Grammatik von al-Gauhari (ca. 933-ca. 1010).

wertvolle, vor allem arabische Handschriften, die einige sehr schöne Stücke enthalten: eine große seltene Kollektion von etwa 50 ismaelitischen Handschriften, die Hikayat Umar an-Nu'man, die älteste Handschrift des berühmten zu "Tausendundeiner Nacht" gehörenden Ritterromans, die 46 farbige Illustrationen enthält und aus dem 15. Jahrhundert stammt, das Kitab Fada'il al-Qur'an (Buch der Vorzüge des Koran) des Abu 'Ubaid al-Qasim ibn Sallam (774-838) in einer Abschrift von 1166 und das Kitab Naswat at-tarab fi ta'rih gahiliyat al-'arab des Ibn Sa'id al-Andalusi (1214-1286).

Es ist nicht zu wundern, dass die Tübinger Universitätsbibliothek durch diese alte traditionsreiche Beziehung zum Vorderen Orient und ihre hervorragende Sammlung im Jahre 1919 in das Sondersammelgebietsprogramm der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft sowie im Förderungsprogramm ihre Nachfolgerin nach dem 2. Weltkrieg, der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) aufgenommen wurde, mit dem Ziel, ausländische Literatur der orientalischen Fächer zu erwerben. Obwohl das Sondersammelgebiet Vorderer Orient (beinhaltet u.a. Religion, Sprachen, Literatur, Geschichte, Politik) im Rahmen der Einbeziehung der neuen Bundesländer in das Sondersammelgebietsprogramm der DFG nach Halle (Saale) 1998 verlagert wurde, blieben die schon für 1998 erworbenen Bestände in Tübingen. Das andere Sondersammelgebiet Alter Orient blieb auch in Tübingen und wurde von der Verlagerung nicht betroffen. So haben die im 20. Jahrhundert erworbenen Veröffentlichungen und Publikationen über die arabisch-islamische Welt fast vollständig ihren Weg in die Sammlungen der Bibliothek gefunden.

Die Universität Tübingen besitzt auch in ihren Sammlungen Kostbarkeiten höchsten wissenschaftlichen und kulturgeschichtlichen Wertes. Einige Sammlungen des Instituts für Ägyptologie und Altorientalistik sind im Museum Schloß Hohentübingen für die Öffentlichkeit zugänglich: So z.B. die ägyptische Opferkammer des Seschemnofer III. (ca. 2420 v.Chr.) aus der Nekropole von Gizeh. Die Münzsammlung des Orientalischen Seminars ist eine der größten islamischen Münzsammlungen der Welt, deren genaue Datierung einen direkten Bezug zum Gang der Geldgeschichte bietet. Eine spezielle Forschungsstelle für islamische Numismatik wurde Anfang 1990 am Orientalischen Seminar der Universität Tübingen eingerichtet.

Der Gründer der Universität Tübingen, Graf Eberhard im Bart - später Herzog von Württemberg - wählte die Palme - Symbol des Lebensbaums, Attribut von Tugendhaftigkeit und Gerechtigkeit, aber auch Oase des Wissens - als persönliches Wappenzeichen. Damit erinnerte er an seine 1468 unternommene Wallfahrt ins Heilige Land, die eine geistige Umkehr bewirkte. Sein Wahlspruch "attempto" ("ich wage es") wird u.a. auf das Wagnis dieser Pilgerreise bezogen. Der Attempto Verlag mit der Palme als Emblem wurde aus Anlass des 500jährigen Gründungsjubiläums der Universität 1977 gegründet. Auch wird die "Palme Attempto" 1998 das geschützte Vereinsemblem des 1924 gegründeten Universitätsbunds Tübingen (Vereinigung der Freunde der Eberhard-Karls Universität). Seine größte Stiftung, die Leopold-Lucas-Stiftung, hat am 18. Mai 2004 ihren Preis an Prof. Dr. Sadik J. Al-Azm aus Syrien verleihen.

Die Veranstaltung "Der Orient zu Gast in Tübingen" möchte diesen traditionsreichen Bereich in der Universitätsstadt Tübingen der Öffentlichkeit näher bringen und für eine Kontinuität in den Orientbezogenen Fächern an der Universität plädieren sowie das Interesse der Tübinger an der Kultur des Orients wecken, das wahre Bild der arabischen und orientalischen Kultur vermitteln und ein Zeichen für den interkulturellen Austausch und die Völkerverständigung setzen.


Vorsitzender des Vereins Arabischer Studenten und Akademiker Tübingen
Initiator and Koordinator der Veranstaltungsreihe
Adwan Taleb


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