Probeklausur 'Spruchdichtung'
Walther von der Vogelweide: 'Ottenton'

Überlieferung: A: III IV V VI II; B: I-III, C: I-III; IV-VI)

I (L 11,6)
Hêr babest, ich mac wol genesen:
wan ich wil iu gehôrsam wesen.
wir hôrten iuch der kristenheit gebieten.
wes wir dem keiser solten pflegen,
5 dô ir im gâbent gotes segen,
das wir in hiezen hêrre und vor im knieten.
ouch sult ir niht vergessen,
ir sprâchent "swer dich segene, sî
gesegent: swer dir fluoche, sî verfluochet
10 mit fluoche volmezzen."
durch got bedenkent iuch dâ bî
ob ir der pfaffen êre iht geruochet.

II (L 11,18)
Dô gotes sun hie in erde gie,
dô versuochten in die juden ie:
sam tâtens eines tages mit dirre frâge:
si frageten, ob ir frîez leben
5 dem rîche iht zinses solte geben.
dô brach er in wol ir huote und al ir lâge.
er iesch ein münizîsen,
er sprach: "wes bilde ist hie ergraben?"
"des keisers", sprâchen dô die merkære.
10 dô riet er den unwîsen,
daz sie den keiser liezen haben
sîn küneges reht und got, swaz gotes wære.

III (L 11,30)
Hêr keiser, sît ir willekomen.
des küniges name ist iu benomen:
des schînet iuwer krône ob allen krônen.
iuwer hant ist krefte. unde guotes vol:
5 ir wellet übel oder wol.
so mac si beidiu rechen unde lônen.
dar zuo sag ich iu mære
die fürsten sint iu undertân
si habent mit zühten iuwer kunft erbeitet.

10 und ie der Mîssenære
der ist iemer iuwer âne wân
von gote wurde ein engel ê verleitet.

IV (L 12,6)
Hêr keiser, ich bin frônebote
und bringe iu boteschaft von gote.
ir habt die erde, er hât daz himelrîche.
er hiez iu klagen, ir sît sîn voget,
5 in sînes sunes lande broget
diu heidenschaft, iu beiden lasterlîche.
ir muget im gerne rihten,
sîn sun der ist geheizen Krist,
er hiez iu sagen wie erz verschulden welle:
10 nû lât in zuo iu pflihten,
er rihtet iu da er voget ist,
klaget ir joh über den tievel ûz der helle.

V (L 12,18)
Hêr keiser, swenne ir Tiutschen fride
machet stæte bî der wide,
sô bietent iu die fremeden zungen êre.
die sult ir nemen ân arebeit,
5 unde süenen al die kristenheit:
daz tiuret iuch und müet die heiden sêre.
ir tragt zwei keisers ellen,
des arn tugent, des lewen kraft,
die sint des hêrren zeichen an dem schilte,
10 die zwêne hergesellen,
wan woltens an die heidenschaft,
waz widerstüende ir manheit unde ir milte?

VI (L 12,30)
Got gît ze künige, swen er wil:
dar umbe wundert mich niht vil,
uns leien wundert umbe der pfaffen lêre.
si lêrten uns bî kurzen tagen,
5 daz wellents uns nû widersagen.
nû tuonz dur got und dur ir selber êre,
und sagen uns bî ir triuwen,
an welcher rede wir sîn betrogen;
volrechen uns die einen wol von grunde,
10 die alten ê die niuwen.
uns dunket einez sî gelogen.
zwô zungen stânt unebne in einem munde.

Erläuterungen: I,10 volmezzen: beladen; III, 9 erbeiten: erwarten

Aufgaben: 1. Übersetzen Sie Strophe I-III ins Neuhochdeutsche
2. Geben Sie das metrische Schema der Strophen an und zeigen Sie exemplarisch an zwei Strophen, wie Walther die Kanzonenform argumentativ nutzt.
3. Maurer setzte ein Lied mit der Strophenfolge III V IV I VI II an. Skizzieren Sie den Argumentationsgang, der sich in dieser Anordnung ergeben würde, und diskutieren Sie daran und anhand von weiteren Sprüchen Walthers das Problem der liedhaften Einheit von Spruchstrophen.
Zeit: 4 Stunden
Anhang: Zur Melodieüberlieferung von Spruchdichtung bietet sich der Ottenton an, da im ältesten erhaltnen Melodiefragment überliefert wird und sich in jüngeren Handschriften als ‚Feiner Ton' wiederfindet. Abbildung der Melodie nach Horst Brunner, Gerhard Hahn, Ulrich Müller und Franz Viktor Spechtler: Walther von der Vogelweide. Epoche - Werk - Wirkung (Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte), München 1996, S. 73.

Aufgaben: Wie gliedert die Melodie den Text? Welche Einschnitte sind betont (vgl. Wiederholungsstruktur und Kadenzen)? Allgemein: Welche Konsequenzen hat die gesungene Realisation der sogenannten ‚Spruchdichtung' für die Interpretation?
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