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PD Dr. Henrike Lähnemann

'Hystoria Judith'. Deutsche Judith-Dichtungen vom 12. bis zum 16. Jahrhundert

Vorauer Handschrift

Titelabbildung: Schluß der sogenannten ‘Älteren Judith’ und Beginn der ‘Jüngeren Judith’. Ausschnitt aus f. 100va der Handschrift 276 der Stiftsbibliothek Vorau, Ende 12. Jahrhundert. Die spätere Marginalie hystoria iudith wiederholt einen gleichlautenden Eintrag (hystoria Judith) vor dem Textbeginn der vorhergehenden Dichtung auf f. 99va  (aus dem Faksimile ‘Die deutschen Gedichte der Vorauer Handschrift’, hg.v. Chorherrenstift Vorau, Graz 1958).

Die Habilitationsschrift ist im Mai 2003 bei der Neuphilologischen Fakultät der Universität Tübingen angenommen werden. Sie erscheint im Herbst 2006 in der Reihe 'Scrinium Friburgense' bei de Gruyter. Bis zur Publikation kann der Text der Projektvorstellung im Oberseminar im Wintersemester 2000/2001 eine allgemeine Einführung in den Komplex der Bibeldichtung und die Anlage der Arbeit geben; genauere Aufschlüsse gibt das Inhaltsverzeichnis in pdf-Form (die Seitenzahlen sind noch vorläufig).

Zur Einführung: Ein Überblick über die Themenstellung
Hans Sachs: Judith-Spruch

Mein Ausgangspunkt war das Phänomen 'Bibeldichtung' und die Überlegung, inwieweit sich damit eine Einheit (um nicht gleich von "Gattung" zu reden) verbindet oder ob alle Auseinandersetzungen mit dem vorgängigen biblischen Text je neu ansetzen. Es wurde bald deutlich, daß sich diese Frage abgelöst von konkreten Texten nicht lösen läßt, sondern für unterschiedliche Teile/Teilstücke der Bibel oder biblischen Bücher die Antwort ganz unterschiedlich ausfallen muß. Es ist klar, daß Psalmen, Prophetensprüche oder Gesetzestexte beim Versuch, sie in die Volkssprache zu vermitteln, ganz anderen Verdichtungsprinzipien ausgesetzt sind als etwa Genesis, aber auch so problematische, aber doch narrative Grundgerüste aufweisenden Randfälle wie Hohelied oder Apokalypse. Deshalb habe ich das Judith-Buch als ein klar abgrenzbaren, narrativ bestimmten Ausschnitt aus dem Gesamttext 'Bibel' ausgewählt, um an einer Längsstudie die Veränderungen zu verfolgen, denen die volkssprachige Bearbeitung und Rezeption unterliegt.

Eine entscheidende Erkenntnis war, daß die literarische Einheit 'Judith' in der Entwicklung eine enge Wechselwirkung mit der Gestalt 'Judith' aufweist. Die Besonderheit der Protagonistin, ja daß es überhaupt so etwas wie eine "Hauptperson" in dem Buch gibt, schwingt immer mit und führte dazu, daß ich den Begriff der Judith im Titel in Anführungsstriche gesetzt habe. Das Erzählen der Geschichte des Judithbuchs erfordert auch eine Stellungnahme zur Namengeberin, und gerade im Spätmittelalter löst sich die Figur zunehmend aus dem narrativen Rahmen. Wir werden das auch an dem für heute ausgewählten Judith-Lied sehen können; ich wollte hier schon einmal darauf hinweisen, daß die didaktische Komponente der biblischen Erzählung sich besonders in der Gestaltung Judiths als Exempel niederschlägt. Wofür sie Exempel ist, kann stark differieren, aber der "Persönlichkeitsfaktor" ist bei der Untersuchung der literarischen Tradition nicht zu unterschätzen.

Zum Aufbau: Einleitend geht es mir um zwei Komplexe: den biblischen Text als Voraussetzung mittelalterlicher Bearbeitung und um das Phänomen 'Bibeldichtung' bzw. die Forschungsgeschichte dazu. Der biblische Überlieferungszusammenhang gibt starke Rezeptionsvorgaben: die Bibel ist im Grunde ja eine ganze Bibliothek und das Judithbuch darin eine theologische Herausforderung am Rande des Kanons. Ich muß kurz wenigstens zwei Voraussetzungen benennen, die im Mittelalter zu einer Sonderbehandlung führten: 1. der Text ist (um eine heftige theologische Debatte schlagwortartig zu verkürzen) als Geschichtsparabel konstruiert: die zahlreichen genannten Personen, Orte und Daten ergeben ein bewußt widersprüchliches Bild; es beginnt gleich mit der Benennung des Feinds als "Assyrerkönig Nebukadnezar" - einen solchen hat es natürlich nie gegeben, und den zeitgenössischen Hörern, deren ganzes Bewußtsein von der Erfahrung des babylonischen Exils geprägt war, war das völlig klar und damit auch, daß der Text eine symbolische Lesart verlangte: es geht um die Auseinandersetzung Israels, verkörpert durch die Personifikation der Jüdin (das heißt der Name Judith schlicht), mit seinen Feinden, für die Nebukadnezar in Personalunion mit den Assyrern die geeignete Chiffre abgibt. Das führte im Mittelalter zu ernsthaften Chronologieproblemen bei der Umordnung der Bibel in eine widerspruchsfreie historia, machte aber auch die Faszinationskraft des Buches aus: die ganze Handlung ist als Lehrstück konzipiert; ihre Moral muß nicht erst über Allegorese oder andere hermeneutische Verfahren eruiert werden, sondern präsentiert immer wieder auf der wörtlichen Ebene den Refrain: am Ende siegen die Gottesfürchtigen, die Hochmütigen stürzen. Diese dem Mittelalter nicht bewußte Gattungsvorgabe der Geschichtsparabel war also Hemmnis und Ansporn zugleich für eine Tradierung und Adaptierung des Stoffes.

Die zweite Sonderbedingung ist das Schicksal der Vorlage: da Judith nicht in den jüdischen Kanon kam, unterlag sie nicht den strengen Sprach- und Tradierungsvorgaben der hebräischen Bibel. Sie kursierte auf Griechisch, in der Form, in der sie in der mit einem weiterem Kanonbegriff operierenden LXX stand. Als es darum ging, einen einheitlichen christlichen lateinischen Bibeltext herzustellen, der auch die nur in der LXX überlieferten Stücke umfaßte, suchte Hieronymus nach einem hebräischen Urtext, um auch die Apokryphen dem Dogma der hebraica veritas zu unterwerfen. Es ist inzwischen opinio communis der Forschung, daß so eine Vorlage existierte, daß aber die Texte, die Hieronymus fand, verschiedene hebräische und aramäische Nacherzählungen des Stoffs waren, weitaus jünger als die griechische Fassung. Er klagte zwar in der Vorrede - die im Übrigen im MA stark rezeptionslenkend war - über die schlechte Überlieferung, hielt sich aber an die hebräischen Versionen, die er - fast wie aus Trotz - extrem wörtlich übersetzte, so daß der Judith-Text von hebraisierenden Wendungen wie in ore gladii für "durch das Schwert" voll ist. Das bedeutete für das MA, daß es die Judithgeschichte in einer bereits "zerzählten" Form kennenlernte, in der v.a. die Gestalt der Judith stärker legendarisch gefaßt wurde. Ausdrücke wie mulier sancta, die für die christliche Weiterverarbeitung Judiths etwa als Typus Mariens entscheidend wurden, gehen auf diesen Überlieferungszusammenhang der jüdischen Legendendichtung zurück.

Ich werde in der Arbeit dann ausführlicher darauf eingehen, wie sich das Judithbuch im gelehrten Kommentarzusammenhang des Mittelalters und in der harmonisierenden Deutung der Gesamtbibel, wie sie quasi verbindlich in der 'Historia scholastica' des Petrus Comestor festgelegt wurde, präsentierte, aber möchte hier nur kurz vorgreifend sagen, daß die gelehrte Auseinandersetzung sehr viel weniger, als ich zuerst angenommen hatte, auf die narrative Gestaltung des Textes in den Volkssprachen einwirkt. Was später Wirkung zeigt, sind die theologischen Urteile zur Person Judiths, aber die Geschichte als ganze ließ sich in ihrer stark polarisierenden Erzählweise kommentarlos verstehen und für die eigenen Bedürfnisse umgestalten, so daß die meisten Judithdichtungen unmittelbar am Vulgata-Text einsetzen und nur die Vorrede des Hieronymus, die wie seine Vorreden zu den anderen biblischen Büchern zum festen Bestandteil des Textes geworden war, eine über die Erzählung hinaus regelmäßig genutzte Wissensquelle ist.

Auf die Forschungsdiskussion zu 'Bibeldichtung', die den zweiten Teil der Einleitung bilden wird, gehe ich jetzt nicht ein, um gleich das Textcorpus vorzustellen, das den Hauptteil der Arbeit ausmacht. Hier sind drei große Traditionszusammenhänge für Judith als deutscher Bibeldichtung auszumachen: 1. Frühmittelhochdeutsche Texte, 2. Deutschordensdichtung, 3. Reformationszeit. Diese drei zeitlichen Komplexe werden um drei über die deutschen mittelalterlichen Judithdichtungen hinausgehende Fragestellungen erweitert: 1. nach Judithdichtungen im europäischen Zusammenhang, 2. nach der Entwicklung Judiths als Exempel/Beispielfigur, 3. nach der bildlichen Umsetzung des Judith-Themas. Es ist eine relativ große Belastungsprobe, der sich diese eine Geschichte dabei ausgesetzt sieht, und wäre diese Geschichte nicht so klar und selbstverständlich immer wieder aufgenommen worden, wäre mir bei dem munteren Springen durch Literaturepochen, Sprachgrenzen und Kunstgattungen auch unwohl. Aber die narrative Konstanz bietet eine Untersuchungsbasis, auf deren Grundlage sich auch die disparaten Bereiche sinnvoll zusammenbringen lassen, ohne falsche Vergleiche zu ziehen.

Die drei Teile zu den deutschen Judithdichtungen umfassen jeweils mehrere Texte, die einzeln interpretiert werden, dann aber auch jeweils in den sie verbindenden Kontext eingeordnet werden, bei wechselnder Schwerpunktsetzung. Für die beiden frühesten deutschen Texten, die sogenannte 'Ältere' und 'Jüngere Judith', ist das evidenterweise die Vorauer Handschrift (bzw. die Gesamtheit der frühmittelhochdeutschen Sammelhandschriften), die eine Perspektivierung auf Quellen, Vermittlung und Publikum als Markierung eines sich wandelnden Verständnishorizonts erlaubt. Bei der 'Judith' von 1254 und ihrer Prosaisierung in Jörg Stulers 'Historienbuch' im 15. Jahrhundert liegt die verbindende Fragestellung im Blick auf Entwicklungen und Kontinuitäten in der Deutschordensdichtung, mit einem besonderen Schwerpunkt auf dem Verhältnis von Narration und Allegorese. Die Judithdramen der Reformationszeit schließlich erlauben eine sehr klare Situierung im Kontext politischer und religiöser Selbstversicherung. Von hier aus bietet sich dann auch bereits der Brückenschlag zur Einzelfigur Judith an, die in ganz unterschiedlicher Funktion angerufen und in Konzepte eingebaut wird. Vor dem Blick auf die Instrumentalisierung der Gestalt kommt aber noch der komparatistische Teil, in dem exemplarisch die angelsächsische Judith des 9. Jahrhunderts, eine mittelenglische Nacherzählung und ein mittelfranzösisches Drama einbezogen werden; der Vorteil v.a. bei der angelsächsischen Judith ist, daß hier neben auch die intensive anglo-amerikanische Forschungsdiskussion einbezogen werden kann, wie sie für den deutschsprachigen Bereich eigentlich ganz fehlt, und in der wenigstens ansatzweise neuere methodische Ansätze zum Tragen kommen. Ansonsten stehen nämlich traditionellen literaturwissenschaftlichen Überblicksdarstellungen unvermittelt die polemisch theoretisch ausgerichteten Untersuchungen zur Judithfigur in der Neuzeit v.a. im Bereich der bildenden Künste gegenüber. Ohne eine kritische Anwendung von gender- und Machtfragen lassen sich aber auch die mittelalterlichen Zeugnisse nicht wirklich würdigen. Das wird besonders deutlich, wenn man zu meiner zweiten übergreifenden Fragestellung kommt, die eng mit der dritten, der Frage nach der bildnerischen Darstellung, verknüpft ist, nämlich nach dem Charakter der Judithfigur als einer sich aus dem narrativen Kontext lösenden Gestalt. Für das Mittelalter, speziell das späte, sind drei Hauptlinien zu verfolgen: Judith als Typus Mariens, v.a. in der Nachfolge des 'Speculum humanae salvationis', als eine der neun Heldinnen, die analog zu den neun Helden sich im späten 14. Jahrhundert herausbilden, und unter den Weiberlisten. Mit diesem letzten Punkt kommt eine Ambiguierung der Figur ins Spiel, die latent das ganze Mittelalter hindurch vorhanden war - die Bedrohung, die von der starken Frau ausgeht. Die Doppelbödigkeit der Figur läßt sich noch deutlicher zeigen, wenn die bildlichen Umsetzungen betrachtet werden. Dies ist der Komplex, zu dem weitaus am meisten geschrieben worden ist, eigentlich aber nur über neuzeitliche Bildformen (Artemisia Gentileschi und Klimt bilden hier ein etwas seltsames Paar an der Spitze der meistuntersuchten Maler). Ich werde den Bereich nur exemplarisch behandeln, aber doch einige Tendenzen aufzeigen können, etwa wie es aus der ikonographischen Tradition zu einer Vermengung von Judith- und Salome-Darstellungen im 16. Jahrhundert kommen konnte.
Die Verbildlichungen, gerade im Kontrast zu den mittelalterlichen Handschriftenillustrationen, sind unverzichtbar, wenn abschließend die beiden Facetten Judiths - Judith, das Buch und Judith, die Frau - noch einmal in einen weiteren Zusammenhang gestellt werden sollen. Der Abschlußteil soll also ein Kapitel mit Überlegungen dazu umfassen, was die Judithdichtungen über das Phänomen 'Bibeldichtung' aussagen, und ein Kapitel, wie Gender und Rolle der Judithfigur ihre Rezeption bestimmten.

- Wie läßt sich ‘Bibeldichtung’ als Form literarischer Umsetzung theologischen Wissens in der volkssprachigen Literatur des Mittelalters fassen?
Verführung Evas aus der 'Millstätter Handschrift'

Bibeldichtung steht am Schnittpunkt mittelalterlicher Kulturen und theologischer und literarischer Diskurse. Hier setzt immer wieder neu der Versuch an, biblische Stoffe und theologisches Wissen volkssprachlich zu vermitteln. Einerseits ist Bibeldichtung die älteste Form literarischer Betätigung mit christlichen Themen (Prudentius, Juvencus) und bildet so ein Kontinuum der Literaturproduktion seit der Spätantike,1 andererseits fordert der übermächtige Stoff immer wieder den Neuansatz heraus, so daß es nicht zu einer Fortschreibung einmal entwickelter literarischer Ausdrucksformen kommt, sondern jeder Entwurf aus den eigenen Kontexten heraus an den biblischen Stoff herantritt.

Bibeldichtung ist kaum als Gattung zu fassen. Das gemeinsame Konstituens ist nicht von der Dichtung aus spezifiziert, sondern stofflich begründet, und dieser einzige Stoff, die Bibel, ist in sich höchst vielgestaltig. Das liegt zum einen darin, daß die Grenzen der Bibel in unterschiedlicher Weise gefaßt werden und sich eine breite Übergangszone bildet, die von den bereits von den Kirchenvätern zum Kanon gezählten alttestamentlichen Apokryphen wie dem Buch Judith bis hin zu umstrittenen neutestamentlichen Ausweitungen wie den Kindheitsevangelien reicht. Zum anderen präsentiert sich die Bibel im Mittelalter in den unterschiedlichsten Gestalten: in Form einzelner Bücher, Plenarien und chronikalischer Harmonisierungen und erreicht die volkssprachige Sphäre im Weg über die unterschiedlichen Vermittlungsinstanzen nur sehr selten in der geschlossenen Gestalt der Vollbibel.2 Die von dieser sich immer wieder unterschiedlich darstellenden Mitte getragene Dichtung kann sich in den verschiedensten Gattungen artikulieren und auch als Stoffsubstrat in andere Großzusammenhänge eingebunden werden, wie es beispielsweise die Weltgeschichte ist, für die die Geschichten des Alten Testaments eine Hauptquelle bilden und gleichzeitig Strukturen zum Verständnis von Geschichte überhaupt (Weltzeitalter etc.) vorgeben. Daher sind hier in besonderem Maße Vermittlungsprozeße zu beobachten, die von verschiedenen Ebenen gelehrten Wissens über popularisierende lateinische Werke und Kompilationen ebenso wie durch die Übersetzung von Kommentarliteratur und wissensorganisierenden Werken zu den volkssprachigen Texten führen - und zwar im gesamteuropäischen Austausch, da über die Bibel als Bezugspunkt immer wieder eine gemeinsame Meta-Ebene erreicht werden kann.

Zur Abgrenzung von Bibeldichtung kann nur ein Minimalkanon an Kriterien aufgestellt werden, wenn nicht der überlieferungsgeschichtliche und übermittlungsbedingte Zusammenhang verdeckt werden soll. Bibeldichtung wird grundsätzlich durch die Versform von Bibelübersetzung und theologischer Traktatliteratur abgehoben. Aber auch hier ergeben sich Übergangsbereiche. So sind beispielsweise Aelfrics angelsächsische Paraphrasen alttestamentlicher Bücher (10. Jahrhundert) in hochartifizieller Prosa abgefaßt, die von ihrem poetischen Anspruch her zur Bibeldichtung gerechnet werden muß, da er sie explizit gegen seine Homilien absetzt.3 Andere Werke liegen sowohl in Vers- wie in Prosaform vor. In den wenigsten Fällen wird damit die gelehrte Tradition des ‘opus geminatum’, die seit Sedulius für Bibeldichtung belegt ist, fortgeführt, sondern eine der beiden Gestalten ist sekundär. Aber grundsätzlich muß der Blick über die Versdichtungen hinaus für den prosaischen Kontext offen bleiben. Das beginnt mit der ‘Historia scholastica’ des Petrus Comestor, die eine der wichtigsten Vermittlungsinstanzen überhaupt für biblische Stoffe darstellt, aber auch direkt versifiziert wird, und findet sich ebenso bei der Deutschordensdichtung, deren gereimte Bibelparaphrasen im 15. Jahrhundert wieder prosaisiert werden.

Für eine systematische Untersuchung von ‘Bibeldichtung’ ist es daher wichtig, Texte nicht primär über Gattung, Sprache oder Periodisierung abzugrenzen, sondern vom gemeinsamen Stoffbezug ausgehend die Fragestellung zu präzisieren. Das kann nur auf dem doppelten Hintergrund der gesamteuropäischen Entwicklung von Bibeldichtung und der vielfältigen Vermittlungsprozesse - vom Lateinischen in die Volkssprache, von der gelehrten Kommentierung in die Popularisierung, von Prosa in Versform etc. - sinnvoll vorgenommen werden. Ich gebe daher im folgenden zuerst einen Überblick über die mittelalterliche deutsche Bibeldichtung, um die Spannbreite der Ausdrucksmöglichkeiten zu zeigen und die Forschungslage auf dem Gebiet zu umreißen. Dann zeige ich exemplarisch an einem biblischen Buch, ‘Judith’, wie ein Stoff gesamteuropäisch tradiert und volkssprachig vermittelt wird.

- Mittelalterliche deutsche Bibeldichtung: Übersicht und Forschungslage
Die deutsche Bibeldichtung setzt erst ein, als in England bereits eine vielfältige stabreimende Dichtung vorliegt. Als ihr Begründer gilt Caedmon, der nach der legendenhaften Mirakelerzählung Bedas um 670 ein Lob des Schöpfergottes in Form eines germanischen Fürstenpreisliedes verfaßte. Spuren dieses gemeingermanischen Ursprungs finden sich in Sprache, Thematik und Form einiger früher deutscher Stücke wie dem Fragment des ‘Wessobrunner Schöpfungslieds’, im ‘Muspilli’ (einer von Umfang und Stil dem Heldenlied entsprechende, warnende Schilderung des Jüngsten Gerichts) und auch in den umfangreichen altsächsischen Bibeldichtungen, ‘Heliand’ und ‘Genesis’ (Mitte 9. Jh.). Dagegen setzt Otfrid von Weißenburg in der gleichen Zeit bewußt eine andere Tradition fort. In Berufung auf die frühchristliche Bibeldichtung verfaßt er eine volkssprachige Evangelienharmonie, die nicht in Stabreimversen, sondern in gereimten Langzeilenstrophen aufgebaut ist. Kleinere Dichtungen, die Paraphrase von Jh 4,4ff (‘Christus und die Samariterin’) und des 138. Psalms, folgen ihm in der Form, wenn sie auch in einzelnen sprachlichen Wendungen vorliterarische Spuren zu bewahren scheinen.

Erst nach einer längeren Zäsur, in der keine neue Literatur entsteht, setzt Ende des 11. Jahrhunderts volkssprachige Dichtung wieder ein. Der Neuanfang ist ganz wesentlich von biblischer Thematik getragen, ohne daß die Traditionen, in denen die althochdeutsche Bibeldichtung verankert war, weitergeführt würden. Auch die literaturgeschichtliche Forschung orientiert sich an dem Einschnitt, so daß zum einen Studien zur Bibeldichtung bis zum 10. Jahrhundert, zum anderen Arbeiten über die frühmittelhochdeutsche Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts vorliegen. Die erste Periode arbeitete 1975 Dieter Kartschoke4 auf, der mit traditionsgeschichtlichem Ansatz lateinische, altenglische, althochdeutsch und altsächsische Texte bis zum 10. Jahrhundert behandelt. Die gleichzeitig konzipierte Arbeit von Achim Masser nimmt zwar auch die Folgezeit auf, ist aber besonders am Grenzbereich zur Legende hin interessiert und wählt daher aus der Bibeldichtung aus.5 Seit diesen beiden Studien ist keine umfassende Arbeit zur Bibeldichtung erschienen. Zu den einzelnen Werken, besonders zu Otfrid, hat die Forschung dagegen stark zugenommen. Wichtig erscheint der Versuch, den schultheologischen Gehalt des ‘Evangelienbuchs’ neu zu erschließen, wie es Ernst Hellgardt6 1981 unternahm. Auch der Kommentar von Gisela Vollmann-Profe7 zum Anfang des 1. Buchs des ‘Evangelienbuchs’ und die Untersuchungen zum Marienbild Otfrids durch Susanne Greiner8 zeigen, daß in der Detailanalyse Erkenntnisse gerade über das theologische Wissen und die Quellenverarbeitung Otfrids zu gewinnen sind. So hat sich für das ‘Evangelienbuch’ die Einsicht durchgesetzt, daß das Dichtungsverständnis der Zeit und die Vermittlungswege zu berücksichtigen sind, wenn nicht falsche Literaturerwartungen dazu führen soll, Bibeldichtung überhaupt, wie Curtius9, nur als „qualvolle Lektüre„ zu betrachten.

Der Abschied von einer von vornherein literarästhetisch wertenden Lektüre wurde durch den poetologischen Anspruch erleichert, mit dem Otfrid in seinen Vorreden der Volkssprache gegenübertritt. Demgegenüber erschien dann die Bibeldichtung der frühmittelhochdeutschen Zeit blaß und unreflektiert - wie etwa ein Vergleich der Kapitel zu Otfrid und zur frühmittelhochdeutschen Dichtung in der ‘Literaturtheorie’ von Walter Haug10 zeigt. Das hat Konsequenzen für die Beurteilung frühmittelhochdeutscher Literatur. Zum einen findet sich hier viel weniger literargeschichtliche Forschung. Gestritten wurde eher auf dem Gebiet der Edition: über die Form der Dichtung und ihre ‘Verderbtheit’; sowohl die Auffassung von Friedrich Maurer11, der die Reimpaare als Langverse druckt, wie die von Erich Henschel und Ulrich Pretzel12, die stark emendierend in den Text eingreifen, konnten sich nicht durchsetzen. Zum anderen begegnen weiterhin abwertende Urteile, beispielsweise von Werner Schröder13, der Albrecht Waags Ausgabe der kleineren Texte14 fortführte.

Für die frühmittelhochdeutsche Literatur stellt sich in besonderem Maße das Problem der Abgrenzung von Bibeldichtung gegenüber geistlicher Dichtung. Offensichtlich programmatisch sind in den drei großen Sammelhandschriften,15 die den größten Teil der Literatur des ausgehenden 11. und beginnenden 12. Jahrhunderts übermitteln, heilsgeschichtlich-dogmatische Texte wie das Ezzolied und didaktische wie die ‘Summa theologiae’ oder das ‘Anegenge’, in denen biblische Motive den Text durchziehen, aber ihn nicht hauptsächlich bestimmen, zusammengestellt mit Bibeldichtung, die ihrerseits hymnische Teile, didaktische Einschübe und allegorische Ausweitungen aufweist.

Auch die drei Handschriften sind überlieferungsmäßig verbunden, da sich in ihnen verschiedene redaktionelle Ausformungen der gleichen umfangreichen Bibeldichtungswerke finden. Teile der ‘Genesis’16 sind in unterschiedlichen Redaktionen in allen drei Handschriften überliefert. Wie die Bilderzyklen zeigen, gehen die Wiener und die Millstätter Handschrift auf eine gemeinsame bebilderte Vorlage zurück, geben den gesamten Text und verbinden damit auch eine ‘Exodus’-Bearbeitung17. Der Text findet sich in der Millstätter Handschrift aber in einer modernisierenden Überarbeitung. Die Vorauer übernimmt nur die Josephsgeschichte dieser Redaktion und bindet sie in ein neues, typologisch und allegorisch ausgeweitetes Erzählgerüst ein. Die Pentateuch-Stücke bilden innerhalb der Handschriften jeweils das Fundament für die folgenden Texte anderer Provenienz. Den Verfassern und Redakteuren dieser Texte war offensichtlich daran gelegen, theologisches Wissen systematisch aufzubauen und in einer gut faßlichen Form zu verbreiten. In den neueren Arbeiten zum Thema hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, daß die gegenüber Otfrid stark vereinfachten Formen allegorischen Sprechens nicht Unkenntnis und Unfähigkeit der Verfasser bedeuten, sondern ein gewandeltes Vermittlungsinteresse anzeigen,18 und daß außerdem hier „erstmals die Merkmale literarisch-historischer Kontinuitätsbildung und einer sukzessiven Entfaltung typenimmanenter Möglichkeiten ablesbar werden„19. Diese Überlegungen müßten auch auf die Sammler und Redakteure übertragen werden, die für die Zusammenstellung der Handschriften verantwortlich waren.

Die Texte, die nach der frühmittelhochdeutschen Periode entstehen, zeigen eine deutlich verschobene Interessenlage. Die biblischen Stücke werden nicht mehr in Sammelhandschriften nebeneinander gestellt, sondern in Kompilationen eingebunden. Dabei wird die alttestamentliche Geschichte größtenteils in die Chronistik verlagert, die neutestamentlichen Erzählungen werden an den Typus der Legende angepaßt und bewegen sich v.a. im apokryphen Grenzbereich des Marienlebens und der Kindheit Jesu.20 Die Texte sind zahlreich und schwer zu überschauen, da sie in einer engen Textsymbiose leben: selbständig konzipierte Werke werden in Übersichtsdarstellungen integriert; dort werden wiederum Episoden und kürzere Textstücke herausgelöst, um sie in andere Zusammenhänge zu übernehmen. Dabei wechseln einzelne Texte im Übergang von der Historienbibel zur Legende oder von der Erzählung in die Weltchronik auch zwischen Vers- und Prosaform.21

Dies Neben- und Miteinander hält bis in das 15. Jahrhundert an, in dem dann zunehmend Bibelübersetzungen die Stelle der Historienbibeln übernehmen und biblische Stoffe daraufhin in anderen Gattungen (Meistersang, Drama) behandelt werden. Es bildet sich aber im 13. Jahrhundert noch einmal ein zusammenhängender Komplex von bibelepischen Texten, der im Umkreis des Deutschen Ordens entsteht. Bibeldichtung ist im Deutschen Orden neben der Chronistik der beherrschende Literaturtypus. Dabei wird zum einen die Tradition der Bibelparaphrase aufgenommen. Als Tischlektüre wurden vor allem alttestamentliche Bücher bearbeitet, die mit dem Sieg der Israeliten über die Heiden kriegerische Identifikationsmöglichkeiten boten. Zum anderen werden Themen fortgeführt, die im Bereich der apokryph-legendarischen Ausgestaltung des Neuen Testaments entstanden, wie es etwa das ‘Marienleben’ des Bruder Philipp zeigt. Wichtig ist die enge Verbindung zwischen diesen Werken, nicht nur innerhalb der Bibeldichtung, sondern auch mit der Chronistik. Die Texte nehmen aufeinander bezug, werden gemeinsam rezipiert und überliefert. Eine neuere Arbeit zu den intertextuellen Bezügen und dazu, ob und wie sich gemeinsame theologische Konzepte, Quellenbenutzung und Interessenslagen erkennen lassen, fehlt. Die letzte zusammenhängende Darstellung zur Deutschordensliteratur stammt aus dem Jahre 1951.22 Die Literatur ist zusammengestellt im Kommentar der ‘Hester’-Ausgabe von Manfred Caliebe23, dessen Schwerpunkt aber auf der sprachhistorischen Untersuchung liegt.

Es zeigen sich damit im Überblick über deutsche Bibeldichtungen vom 9. bis zum 15. Jahrhundert drei zusammenhängende Textkomplexe, die zunächst einmal voneinander unabhängig biblische Stoffe bearbeiten: die altdeutsche Zeit mit den epischen Werken Otfrids und des Helianddichters und einigen damit verbundenen kürzeren Stücken; die frühmittelhochdeutsche Zeit, in der kürzere Stücke Bibeldichtung mit umfangreicheren Pentateuchbearbeitungen in Sammelhandschriften vereinigt werden und schließlich die Deutschordensdichtung mit alttestamentlicher Bibelepik und legendarischen Fortschreibungen neuttestamentlicher Motive. Um Konstanten von Bibeldichtung herauszuarbeiten, gilt es, diese Texte neu unter systematischer Fragestellung zu verbinden, ohne dabei ahistorisch vergleichend vorzugehen. Hier kann die Frage nach den Vermittlungsprozessen eine hermeneutische Schlüsselfunktion übernehmen. Denn nur wenn diese indirekten Verbindungen zwischen den Texten wahrgenommen werden, ist es möglich, Bibeldichtung unterschiedlicher Zeitstufen trotz ihrer Diskontinuität intertextuell lesbar zu machen. Ein Textkorpus für diese Untersuchung muß bibeldichtungsadäquat, d.h. ausgehend vom Stoff, nicht von einer Textgattung oder Sprachstufe aus, gebildet werden. An einem durch den gemeinsamen Stoff zusammengebunden Textensemble kann dann untersucht werden, wie sich Bibelkenntnis, gelehrtes Wissen und wissensstrukturierende volkssprachige Zwischeninstanzen auf die Fassung der Texte auswirken.

- Textkorpus ‘Judithdichtungen im Vergleich’: Übersicht und Forschungslage
Das Buch Judith bietet für einen Zugang unter der systematischen Fragestellung der Wissensvermittlung und des Textverständnisses eine gute Ausgangslage. Allein im deutschsprachigen Raum finden sich drei eigenständige Bearbeitungen. Der Stoff konnte einerseits legendarisch abgeschlossen als eigener Textkomplex behandelt werden, ist aber in der mittelalterlichen Bibelvermittlung durch vielfältige Verbindungen (chronologische Fiktionen, typologische Bezüge, Figurenkonstellationen) in einen Textverband eingeschlossen, der Esther, Tobit und Daniel umfaßt.

Dieser Bereich der hellenistisch-jüdischen Schriften stand in der wissenschaftlichen Theologie lange im Schatten der Geschichtsbücher, die Ereignisse der israelischen Vorzeit zu schildern beanspruchen. Erst als sich zeigte, daß die historisch-kritische Methode nur sehr begrenzt zur israelischen Frühzeit zurückführen kann und auch für die älteren Bücher, etwa den Pentateuch, immer wieder auf die redaktionelle Gestaltung von Geschichte zurückgeworfen ist, stießen die sich von vornherein literarisch präsentierenden Texte der Übergangs- und Spätzeit auf neues Interesse. Inzwischen hat sich in der Theologie die Erkenntnis durchgesetzt, daß dieses Schrifttum durch seine Einbindung in die antike Literaturproduktion in besonderer Weise das entstehende Christentum geprägt und bis in die Patristik gewirkt hat, so daß ihm für die Frage der Wissensvermittlung eine Schlüsselstellung zukommt. Ich werde daher die deutschen Judithdichtungen im Rahmen der gesamteuropäischen Vermittlung des Stoffes kurz chronologisch vorstellen, um dann unter dem nächsten Punkt methodische Möglichkeiten der Erschließung dieses Textkorpus anreißen zu können.

Die Stoffgeschichte des Buches Judith ist für die Neuzeit mehrfach aufgearbeitet worden. Edna Purdie24 stellte als Einleitung zu ihrer Arbeit über die Judithgeschichte 1927 über hundert deutsche und englische poetische Bearbeitungen des Stoffes zusammen. Die Liste wurde 1930 von Otto Baltzer25 für den deutschsprachigen Bereich ergänzt. Beide nehmen grundsätzlich auch mittelalterliche Werke auf, aber die Angaben dazu sind knapp und ergänzungsbedürftig. Das ändert auch nicht die neue bibliographische Zusammenstellung von David Radavich26 von 1987, der europäische Judithbearbeitungen über Deutschland und England hinaus berücksichtigte, aber sich offensichtlich für die ältere Zeit auf Purdie verließ und beispielsweise die Deutschordensdichtung ‘Judith’ überhaupt nicht aufnimmt. Einen speziell mediävistischen Überblick zum Thema gibt es nicht.

Obwohl das Judiththema im Zuge feministischer und strukturalistischer Analysen auf besonderes Interesse gestoßen ist, führen die neueren, methodisch interessierten Arbeiten die Analysen so gut wie nie über die Zeit der Renaissance bzw. für Deutschland über die Reformation hinaus zurück, da dort die Instrumentalisierung des Judith-Mythos besonders deutlich wird - und da dann auch eine Vielzahl von Bildgestaltungen des Themas vorliegt27. So springt die neuere Arbeit von Volker Mergenthaler28, die sich mit poetologischer, semiologischer und intertextueller Diskursivierung von Enthauptung beschäftigt, direkt von der Septuaginta zu Luther und von dort in die neuzeitlichen Bearbeitungen. Auch in den neueren feministisch oder narratologisch ausgerichteten theologischen Arbeiten wie etwa dem Essayband ‘No one spoke ill of her’29, der sich neben der Analyse des Textes um eine Aufarbeitung der Judith-Rezeption bemüht, fehlt die mediävistische Seite des Themas. Das mag auch damit begründet sein, daß sich das theologische Interesse auf die Septuaginta-Fassung des Stoffes bezieht, während die mittelalterlichen Bearbeitungen von der Vulgata abhängen, für deren Text Hieronymus bewußt einen legendarisch eingefärbte aramäische Vorlage benutzte, die jünger als die Septuaginta ist.

Zu den einzelnen mittelalterlichen Judithdichtungen ist unterschiedlich stark geforscht worden, nur wenig komparatistisch.30 Intensive Beachtung fand die wohl älteste volkssprachige Bearbeitung des Judiththemas, die altenglische Judith. Schon durch ihrer Überlieferungsgemeinschaft mit dem Beowulf geriet sie nie ganz aus dem Blickwinkel der Forschung und wurde so bruchlos bis in die Gegenwart kommentiert und rezipiert. Eine neue Ausgabe, die dritte in diesem Jahrhundert, spricht für das anhaltende Interesse.31 Entsprechend wird der Text auch, im Unterschied zu den meisten anderen mittelalterlichen Judith-Bearbeitungen, in der neueren, feministisch und sozialgeschichtlich geprägten Diskussion in einer Weise rezipiert, wie es sonst nur bei neuzeitlichen Judith-Bearbeitungen zu finden ist.Unter den neueren Arbeiten ist als streitbarer, aber methodisch fundierter Zugriff der Aufsatz von Karma Lochrie hervorzuheben32, die für den Sammelband ‘Class and Gender in Early English Literature’ aus Überschneidungsbereich der Kategorien ‘Klasse’ und ‘Geschlecht’ die Problematik einer angemessenen Interpretation der ‘Judith’ entwickelt.

Ein Jahrhundert später bearbeitete Aelfric Grammaticus wohl für eine Nonne die Judith in rhythmisch stilisierter englischer Prosa.33 Der Schluß des Textes ist verloren, aber es ist erkennbar, daß, wie etwa auch bei der Esther-Paraphrase Aelfrics, auf die allegorische Ausdeutung eine Legende folgte. Wichtig für das Verständnis von englischer Bibeldichtung ist Aefrics Vorrede zum Alten Testament,34 die er nach der Bearbeitung mehrerer alttestamentlicher Bücher verfaßte. Neuere literaturwissenschaftliche Ansätze interessieren sich für den Adressatenbezug von Aelfrics Text35 und die unterschiedlichen Erzählstrukturen der beiden angelsächsischen Judith-Fassungen36 - eine Fragestellung, die gerade durch die enge gemeinsame Überlieferung der ‘Älteren’ und der ‘Jüngeren Judith’ auch für den deutschen Bereich lohnend wäre.

Etwa gleichzeitig mit der frühen angelsächsischen Judith ist in einer Veroneser Handschrift aus dem 9. Jahrhundert eine lateinische Bearbeitung des Themas bezeugt. Die 13 erhaltenen Strophen des ‘Versus de Judith’37 schildern die Belagerung Betuliens und die Flucht der Assyrer. Der Rhythmus scheint innerhalb eines größeren Zusammenhangs konzipiert zu sein, da in der Handschrift direkt darauf ein abecedarischer Esther-Rhythmus folgt. Aber die Überlieferung ist gestört, so daß der gesamte Mittelteil der ‘Judith’ fehlt. Dies ist besonders bedauerlich, da Dieter Kartschoke38 für den frühesten deutschsprachigen Text eine enge Anbindung an die lateinische Hymnendichtung vorschlägt, die ‘Ältere Judith’ sich aber gerade auf die Szenen im Lager des Holofernes konzentriert.

Die beiden frühesten deutschen Bearbeitungen des Judith-Stoffes entstehen im 11. Jh. und sind gemeinsam in der Vorauer Handschrift überliefert. Dabei ist die ‘Ältere Judith’ Teil eines schon vorher bestehenden Textensembles, das vollständig übernommen wurde. Es umfaßt die sogenannte ‘Summa Theologiae’, das ‘Lob Salomons’ und ‘Die drei Jünglinge im Feuerofen’, an die sich die ‘Ältere Judith’ ohne Schreibzäsur anschließt und mit der sie durch refrainartig wiederholte Verse verbunden ist.39 Vielleicht schon vor der Redaktion der Handschrift wurde von einem Bearbeiter dieser Komplex mit der ‘Jüngeren Judith’40 verbunden. Neuere Forschung zur sprach- und überlieferungsgeschichtliche Einordnung der beiden Judith-Fassungen findet sich bei Werner Schröder,41 der aber für die von ihm als formal schwach abgelehnte Dichtung auf weitere Interpretation der unterschiedlichen Vermittlungsprozesse verzichtet.

Bevor der Judithstoff dann zum dritten Mal in Deutschland aufgegriffen wird, entsteht im 12. Jahrhundert die mittellateinische Bibelparaphrase ‘Aurora’42. Petrus Riga stützt sich vor allem auf die ‘Historia scholastica’ des Petrus Comestor, nimmt aber für mystice Deutungen auch weitere Quellen mit auf. Das Buch Judith gehört mit Tobit, Daniel und Esther zur zweiten Gruppe von Büchern, die er bearbeitete. Es bot sich an, sukzessive weitere mit allegorischen Auslegungen versehene Buchparaphrasen zu ergänzen. So bestehen zahlreiche Rezensionen seines Werks, die nebeneinander benutzt wurden. Als populärste mittelalterliche Versbibel übte die ‘Aurora’ einen eminenten Einfluß nicht nur auf Bibeldichtung, sondern überhaupt auf volkssprachige Dichtung aus.

So ist die französische Bibelparaphrase vom Ende des 13. Jahrhunderts, die ‘Bible de macé de la charité’43, von der 1. Redaktion der ‘Aurora’ abhängig, die Ägidius von Paris unternahm. Sie läßt die ‘Rekapituliones’ aus und übersetzt relativ frei, komplettiert dafür das Textprogramm der ‘Aurora’ durch die Ergänzung der Apokalypse.

In der deutschen Literatur des 13. Jahrhundert begegnet das Judith-Motiv an verschiedenen Orten: zum einen ist es als Teil der Weltgeschichte auch Teil der Chroniken; so wird in der Kolmarer Handschrift44 zur Fortsetzung der Weltchronik Rudolfs von Ems für den Abschitt Könige bis Daniel, in dem die Judithgeschichte in der Tradition der Historienbibeln45 chronologisch zwischen Daniel und Tobias eingeordnet wird, eine versifizierte Fassung vom ‘Buch der Könige’ herangezogen.46 Auch in der Weltchronik des Jansen Enikel, der sich wiederum auf die Kaiserchronik stützt, findet sich eine Judithpassage.47

Zum anderen entsteht aber auch eine selbständige, nicht mit den Chroniken verbundene ‘Judith’ innerhalb der Deutschordensliteratur.48 Das Werk wird im Epilog auf 1254 datiert49 und einem vrunt unde bruder (v. 73) gewidmet. Es reichert den Stoff durch verschiedene allegorische Exkurse an und bietet damit die ausführlichste deutsche Version des Judithbuchs (2814 Verse). Wie die anderen Deutschordensdichtungen wurde die ‘Judith’ im 15. Jahrhundert durch Jörg Stuler auch in eine Prosafassung gebracht.50

Mit dem 13. Jahrhundert enden die epischen Bearbeitungen des Judithstoffes in Deutschland. Aus dem 14. Jh. ist ein Frauenlob zugeschriebener Spruch von 20 Versen im Goldenen Ton über Judith erhalten, der aber bei der Edition der Sprüche Frauenlobs von Karl Stackmann51 ausgeschieden wurde, so daß er nur in der Ausgabe von Ludwig Ettmüller52 ediert vorliegt und in der Forschung nicht weiter behandelt wurde.

Ein neues Interesse findet der Judithstoff im 16. Jahrhundert, teilweise durch seine Transponierbarkeit auf Konstellationen der Reformation. Es entstehen zahlreiche Dramatisierungen. Das beginnt 1534 mit Sixt Bircks Ain Nutzliche History/ durch ain herrliche Tragoedi/ in spilsweiß für die augen gestelt/ Dienlichen/ Wie man in Kriegßleüfften... vmb hilff zu Gott dem Herren flehend ruffen soll’53. Birck bearbeitete sein Stück zwei Jahre später noch einmal, diesmal lateinisch.54 Weitere Bearbeitungen der Judith stammen von Joachim Greff (1536), Wolfgang Schmeltzl (1542), Cornelius Schonaeus (1552) und einem Anonymus (1564). Im Meistersingermilieu entstehen drei weitere dramatische Versionen: Hans Sachs (1551), der Hirschberger Geistliche Samuel Hebel (1566) und der Laubaner Pfarrer Martin Boehme (1618). Charakteristisch ist die offene politisch-religiöse Allegorisierung des alttestamentlichen Geschehens.

Anders ist die Lage in Frankreich und England, wo ebenfalls dramatische Fassungen entstehen, aber von einem unterschiedlichen Typus. So wird Jean Molinet ein Judith-Drama zugeschrieben, das Teil eines Mysterienspielzyklus zum Alten Testament ist, ‘Le mystère de Judith et Holofernés’.55 Daneben wird die Tradition der Reimbibel fortgeführt in Werken wie der mittelenglischen metrischen Paraphrase des Alten Testaments.56

Die Beliebtheit des Stoffes als Dramenvorlage hält sich ungebrochen im Barock. Judith wird nicht nur als selbständiges Drama konzipiert, mehrmals etwa im Jesuitentheater, wo sich die Judithfigur in ihrer mittelalterlichen Ausprägung durch ihre Nähe zur Heiligenvita innerhalb der biblischen Stoffe besonders anbot, sondern liefert auch den Vorwurf für zahlreiche Opern- und Oratorienlibretti des 17./18. Jahrhunderts. So bestand der Stoff nach dem Versiegen der im engeren Sinne bibelepischen Umsetzungen bis in die Neuzeit weiter.

- Zum Aufbau der Arbeit: Methodischer Einstieg und stoffgeschichtlicher Längsschnitt
Die Arbeit soll von dem skizzierten Textkorpus der Judith-Dichtungen ausgehend einerseits für einzelne Werke eingehende Textanalysen bieten, zum anderen grundsätzliche Probleme von Bibeldichtung unter dem Blickpunkt des in ihr vermittelten Wissens und der Einbindung in die Überlieferung behandeln.

Dazu ist vorab ein forschungsgeschichtlicher Überblick zu stellen, der verdeutlichen kann, wie sich in der Beurteilung von Bibeldichtung grundsätzliche Paradigmen der Wissenschaftsentwicklung abbilden. Hier ist auch, oder gerade, Otfrid von Weißenburg zu berücksichtigen, da das ‘Evangelienbuch’ am intensivsten und kontinuierlich in der Forschung bearbeitet worden ist.

Für die folgenden exemplarischen Analysen besteht die methodische Aufgabe, Fragen der Überlieferungsgeschichte zu verbinden mit dem theologischen Horizont der Zeit und der literarischen Entwicklungen. Der Vergleich der Judithdichtungen untereinander soll dazu beitragen, Vermittlungswege zu erkunden, die Durchsetzung wissenschaftlicher Tendenzen im ‘unterwissenschaftlichen’ Bereich zu verfolgen - ohne dabei die Eigengesetzlichkeit von Literatur aus den Augen zu verlieren. Es muß danach gefragt werden, welche Autoritäten wie verarbeitet werden und wie stark dies durch das Zielpublikum beeinflußt ist. Beispielsweise läßt sich vergleichend untersuchen, wieweit auf dem Vermittlungsweg von der Vulgata über Petrus Comestor über die ‘Aurora’ zu den volkssprachigen Dichtungen die jeweils vorhergehenden Stufen präsent bleiben. Für welche Elemente genau wird der Rückgriff bis zur Vulgata vorgenommen und wo wird auf die redaktionelle Arbeit anderer aufgebaut? Schlägt ein Paradigmenwechsel in der Wissenschaft oder der Streit um bestimmte Dogmen bis in die Bibeldichtung durch und wenn ja, mit welcher Verzögerung reagieren die Texte?

Administration: 17.04.2007, Henrike Lähnemann(ndmla01@uni-tuebingen.de)

Henrike Lähnemann
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